Meine Mutter wuchs als jüngstes von zwölf Geschwistern in einem kleinen Dorf in der Steiermark auf und kam mit sechzehn Jahren in die Schweiz. Hier lernte sie meinen Vater kennen und blieb. Sobald mein Bruder und ich laufen konnten, nahmen wir jedes Jahr die gut zwölfstündige Fahrt zur Grossfamilie Reinisch unter die Räder, um meine zahlreichen Tanten, Onkeln und Cousinen in der Nähe von Graz zu besuchen.

Beim Gedanken an unsere vielen Sommerurlaube in Österreich kommen mir nebst herzlichem Beisammensein und üppigem Essen (Brettljausn, Backhenderl, Salat mit Kürbiskernöl und “Möhlspeis”) drei Begebenheiten in den Sinn:

 
Peinliche Momente und viel Aufregung

Da ist zum einen der epische Moment, als mein Vater mich während des Feuerwehrfestes in einer dunklen Ecke auf dem Schoss eines charmanten jungen Mannes erwischte, der meine Unbedarftheit geschickt zu nutzen wusste. Ich hatte nicht gewusst, wie ich mich aus der Situation selbst herauswinden sollte, so dass ich über das Erscheinen meines Papas peinlich berührt und erleichtert zugleich war.

Wir sprachen danach drei Tage kaum miteinander, dann war die Sache erledigt.

Den zweiten denkwürdigen Moment bescherte uns eine Ratte, die uns in der ansonsten einwandfrei gepflegten Pension in St. Nikolai ob Drassling plötzlich aus der WC-Schüssel heraus anstarrte. Sie verursachte einigen Aufruhr im ganzen Betrieb – und ein mulmiges Gefühl bei jedem weiteren Gang aufs Klo.

 

“Ehrlich?”

Meine dritte Erinnerung gilt einem Mädchen, das sich einmal ebenfalls als Gast in oben genannter Pension aufhielt. Wir verbrachten nicht viel Zeit miteinander, jedoch genug, um ihre sprachliche Macke für immer im Gedächtnis zu behalten. Diese sprachliche Macke – der Ausdruck sei mir verziehen – bestand darin, nach jedem von mir geäusserten Satz “Ehrlich?” zu sagen.

Egal, was ich auch erzählte, sie schien sämtliche meiner Aussagen mit diesem “Ehrlich?” oder einem “Echt jetzt?” anzuzweifeln. Es dauerte nicht lange, und sie hatte mich mit dieser Eigenart vollends auf die Palme gebracht.

Interessanterweise ist mir dieses Mädchen mit ihrer Sprachgewohnheit in letzter Zeit wieder in den Sinn gekommen. Dies in ganz neuem Zusammenhang – als Sinnbild der aktuellen Zeitqualität, wie sie sich mir zeigt. Oder anders:

Die Frage “Echt jetzt?” ist ausgesprochen passend in einer Welt, die uns momentan zu prüfen scheint, wie echt und ehrlich wir mit uns und anderen unterwegs sind.

 

Halbherziges wird nicht mehr toleriert

Wenn ich mein eigenes Leben anschaue und beobachte, was sich in meinem näheren Umfeld ebenso wie auf der Weltbühne ereignet, nehme ich wahr, dass halbherzige Kompromisse geradezu unmöglich geworden sind:

Jede Art von Beziehung, die uns nicht (mehr) erfüllt und bei der kein Energieausgleich (mehr) gegeben ist, zerfällt in sich oder wird mindestens einer schweren Prüfung unterzogen. Das gilt sowohl für partnerschaftliche als auch für freundschaftliche und familiäre Beziehungen.

Unstimmigkeiten treten unweigerlich an die Oberfläche, werden sicht- und nicht mehr länger tolerierbar. Alles, was jemals in uns gegärt hat, kocht jetzt hoch. Arbeiten wir für eine Firma oder gehen wir anderweitig einer Tätigkeit nach, die nicht mehr unserer Frequenz entspricht, fühlt sich das für uns so schwer an, dass wir die Arbeit aufgeben – oder uns gekündigt wird.

 

Plutonisches Prinzip: Sei authentisch oder geh zugrunde

Grundsätzlich gilt in meiner Wahrnehmung für all unser Sein und Tun: Es darf nur noch Bestand haben, was uns nährt und sprichwörtlich unserer Wellenlänge entspricht.

“Echt jetzt?” ist also die Frage, die wir uns selber stellen können. Die zu stellen wir gleichsam gezwungen sind. Unterlassen und verdrängen wir das, wird aus der Frage eine Aufforderung mit fettem Ausrufezeichen dahinter. Dann werden wir vom Leben oder unserer Seele unmissverständlich dazu gebracht, authentisch zu werden.

Gleich dem plutonischen Prinzip wird zurzeit alles geprüft, um entweder gestärkt fortzubestehen oder unterzugehen. In der Astrologie gilt der fast sechstausend Kilometer von der Sonne entfernte Zwergplanet Pluto als Transformator schlechthin: Was er berührt, erfährt eine radikale Wandlung nach dem Motto “Sei echt oder stirb”.

Und der Weg in die Authentizität beginnt meist – mit Krisen und Chaos.

Gemäss Astrowiki steht Pluto “… nicht nur für eine Krise, sondern dadurch, dass er alles Verdrängte und Verbotene ans Licht zerrt, letztlich auch für deren Überwindung. Er ist Symbol für Transformation im Sinne einer umfassenden Läuterung …”

 

Laute Nacht, ehrliche Nacht

Mir scheint, dass gerade die Weihnachtszeit reichlich Gelegenheiten für solche Prüfungen mit sich bringt.

Versuchen wir jetzt, den Erwartungen anderer zu entsprechen, die mit uns selbst längst nicht mehr im Einklang sind, stehen die Chancen gut, in eine herausfordernde Situation hineingeworfen zu werden. Unter Umständen lässt uns eine solche Situation gar keine andere Wahl, als lange Verdrängtes auszusprechen, mit alten Gewohnheiten zu brechen, endlich zu uns selbst zu stehen.

Als ehemaliger Aufräumcoach weiss ich: Will eine neue Ordnung entstehen, braucht es am Anfang das Chaos. Doch was sich erst als kaum bewältigbares Durcheinander präsentiert, führt letztlich zu einer nie dagewesenen Klarheit.

Und um diese zu erreichen, lohnt sich jeder Bruch mit Altem und jede noch so emotionale Achterbahnfahrt.

Ich hätte nicht gedacht, dass dieses Mädchen damals in Österreich mit ihrer penetranten Frage gut vierzig Jahre später nochmals in mein Bewusstsein treten würde.

Noch habe auch ich Bereiche, in denen ich nicht ganz authentisch bin – mich nicht traue, ganz ich selbst zu sein. Doch ich erlaube mir, hinzuschauen und diese Bereiche auszuleuchten. So dass ich jedes “Echt jetzt?” dereinst mit einem überzeugten “Ja, echt jetzt!” werde beantworten können.

In diesem Sinne wünsche ich auch dir von Herzen eine ehrliche Weihnacht und ein erbauliches 2025!