Eine Aufgabe, die mir jedes Mal sehr viel Freude bereitet, ist die Textbearbeitung. Ich liebe es, Texte leicht verständlich und fliessend zu gestalten. Dabei eliminiere ich gleichzeitig grammatikalische und stilistische Fehler und lasse mit kleinen Anpassungen mein Wissen um die bewusste Sprache einfliessen.

Für eine Stammkundin darf ich seit Jahren Patientenverfügungen (auf anonymer Basis) überarbeiten, die sie mit ihren Kundinnen und Kunden im Gespräch vorbereitet und dann in Worte fasst.

Eines dieser Worte korrigiere ich bei der Bearbeitung regelmässig: das Wort «versterben». Ich tue dies, indem ich das Präfix (1) «ver-» entferne und aus versterben einfach «sterben» mache.

Versterben. Sterben. – Spürst du den Unterschied?

 

Einfacher und klarer ohne «ver-»

Ver-sterben hat etwas Ver-drehtes an sich, es löst ein seltsames Gefühl in mir aus. Wie scheidet jemand aus dem Leben, wenn sie oder er «verstirbt»? Da scheint mir «sterben» als Vorgang einfacher und, ja, natürlicher, gradliniger zu sein.

Die verdrehende Wirkung der Vorsilbe «ver-» nehme ich auch bei anderen Worten wahr, etwa bei

  • «verabschieden» (das hört sich nach einer Abfertigung an; stattdessen sage ich lieber ade oder auf Wiedersehen),
  • «verabreichen» (hier zweifle ich instinktiv die Qualität oder den Geschmack des Verabreichten an), oder bei
  • «verbleiben»: Wie bei «versterben» ist es klarer, wenn ich die Vorsilbe streiche und einfach (zurück oder übrig) «bleiben» sage.

 

Eine vielseitige Vorsilbe – mit teils «schwieriger» Bedeutung

Ein Blick ins Wörterbuch lässt erahnen, woher die zweifelhafte Wirkung von Verben mit dem Präfix «ver-» kommt:

Zunächst hat die Vorsilbe viele unterschiedliche Bedeutungen. Das allein macht die Sache schwer überblickbar. Interessant ist weiter, welche Bedeutungen dem kleinen Wortteil zugeschrieben werden:

Die diversen elektronischen Quellen bezeichnen «ver-» unter anderem als Vorsilbe, die ….

  1. das betreffende Wort als negativ oder schwierig markiert («Ich habe mich im Labyrinth verlaufen / verirrt»,
  2. die Bewegung eines Objekts markiert («Wir haben uns ins Sitzungszimmer verschoben»),
  3. bestimmt, dass eine Sache mit etwas versehen wird («Der Goldschmied vergoldete den Ring»),
  4. Veränderung bis hin zur Zerstörung beschreibt («Durch Verschmelzung haben sie den Metallblock in eine Pfütze verwandelt» oder «Die Armee wurde vernichtet»),
  5. Fehlverhalten beschreibt («Da habe ich mich vertan» oder «Ihr habt das Ziel verfehlt»),
  6. bestimmt, dass eine starke, schwer rückgängig zu machende Änderung auf den körperlichen oder seelischen Zustand von jemandem einen starken Einfluss ausübt («Er hat sich verliebt», «Sie verhungerten beinahe»), oder eben
  7. bei vielen Verben zu keiner besonderen Bedeutung führt.

Die Hälfte aller Verben mit Präfix beginnt mit «ver-»

Bei diesen Bedeutungen finde ich es interessant, dass rund die Hälfte aller deutschen Verben mit Vorsilbe mit einem «ver-» beginnt.

Daraus ergibt sich eine stattliche Menge. Eine konkrete Anzahl habe ich nirgends gefunden, und das Zählen der Begriffe im Wörterbuch war mir zu aufwändig. Doch obiges Bild zeigt bereits deren hundertfünfundzwanzig, und da sind wir beim Anfangsbuchstaben des Wortstammes gerade mal bei d angekommen.

Da kann es anspruchsvoll werden, jeden dieser Begriffe zu vermeiden.

Ist das denn nötig?

 

Vieles wird einfacher und gradliniger

Nein, das ist es nicht.

Doch einmal mehr dürfen wir unser Bewusstsein weiten und achtsam sein, wo eine Alternative förderlicher oder klarer wirkt. Oft erscheint das «ver-» schlicht überflüssig, wie oben in «vermeiden», in «verbleiben», «vertrauen» oder «verorten» .

Hier lasse ich die Vorsilbe einfach weg.

In anderen Fällen gibt es Alternativen, die in meinen Augen eine wohltuendere Wirkung haben. So ersetze ich beispielsweise «ich vermisse dich» mit «du fehlst mir», oder ich bin einfach mit jemandem beisammen, statt mit ihr oder ihm «Zeit zu verbringen».

Wenn dich künftig also ein «ver-Wort» irritiert, halte inne und suche andere Möglichkeiten, mit denen du dich wohler fühlst. Du wirst fündig werden – und unter Umständen erstaunt wahrnehmen, wie dann auch vieles andere in deinem Leben einfacher und gradliniger wird.

 

(1) Ein Präfix ist eine Vorsilbe (auch: ein unselbstständiger Wortteil), die vorne an einen Wortstamm angefügt wird und dadurch ein Wort mit neuer Bedeutung ergibt (z.B. umfahren). Im Gegensatz dazu wird ein Suffix am Ende eines Wortstammes angefügt (z.B. achtsam).

Es wird weiter unterschieden zwischen einem Präfixverb, das konjugiert nicht trennbar ist («ich umfahre»), während das Partikelverb konjugiert getrennt wird («ich fahre um»).