In Zermatt, am Fuss des Matterhorns, spielt sich derzeit ein Drama wie zu Schillers Zeiten ab:

Die Polizei hat das Restaurant Walliserkanne mit riesigen Betonblöcken verbarrikadiert. Kurz vorher hat sie es geschlossen und angeordnet, dass niemand das Lokal betreten darf. Wiederum ein paar Tage vorher ist eine Truppe von acht Polizisten in Vollmontur im Restaurant erschienen und hat die Eigentümer sowie die Restaurantbesucher eingeschüchtert.

Warum?

Die Wirte wehren sich gegen die Zertifikatspflicht, die der Bund über ihr Restaurant und andere Institutionen des öffentlichen Lebens verhängt hat. In ihrem Restaurant sind alle willkommen.

Ich kenne das Gefühl von geballter Wut und Aggression

Als ich der überzogenen, nie dagewesenen Massnahme der Betonblöcke nachsinnierte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Ich kann der Polizei nachfühlen!

Ich KENNE das Gefühl, das zu solchen Massnahmen führt. Das Gefühl von geballter Wut und Aggression, das nötig ist, um einzuschüchtern, autoritär aufzutreten und gegebenenfalls Gewalt anzuwenden 1.

Dieses im Bauch beginnende Gefühl stieg vor ein paar Jahren noch regelmässig in mir auf – immer dann, wenn sich eins unserer Kinder gegen mich auflehnte.

Das rote Tuch: Mein Kind sagt Nein

Wenn ich eine klare Ansage machte und ein NEIN zur Antwort erhielt, war das ein rotes Tuch für mich. Es führte augenblicklich dazu, dass ich aufbrauste und bei anhaltendem Widerstand ausser mich geriet. Was fiel Ben ein, sich mir zu widersetzen?! Wie konnte es sich Mia erlauben, meinen klaren Aufforderungen nicht nachzukommen?!

Ohne mir dessen bewusst zu sein, hatte ich meine Mutterrolle in den ersten Jahren so definiert, dass ich meinen Kindern zeigen wollte, welche Regeln galten, was richtig und falsch ist, wie sie sich benehmen sollten. Dabei wollte ich streng und konsequent sein.

Ich hatte meine dahin gehende Konditionierung noch nicht erkannt und hinterfragt. Auf meiner Hardware lief noch das alte Programm.

Betonblöcke bringen den Prozess in Gang

Und so stellte auch ich hunderte von Betonblöcken auf. Ich drohte, ich schrie – und wenn die Wut zu gross war, packte ich auch mal hart an.

Es brauchte viele, viele Konflikte, bis mir irgendwann aufging: Das ist nicht der Weg. Ich fühle mich schlecht, die Kinder fühlen sich schlecht – das KANN nicht der Weg sein!

Heute weiss ich:

All diese Konflikte waren dazu da, um einen Prozess der persönlichen Entwicklung in Gang zu bringen. Einen Prozess, in dem ich unter anderem erkannte, dass meine Aufgabe als Mutter eine gänzlich andere ist als jene der Erzieherin, der Befehlserteilerin, der Regelerstellerin, der Rechthaberin.

Von der Befehlserteilerin zur Begleiterin

Wohin haben wir uns als Eltern entwickelt?

Gleich geblieben ist, dass es auch heute noch Regeln gibt, an die sich jedes Familienmitglied halten darf. Sie setzen den Rahmen, in dem wir leben wollen.

Was sich grundlegend geändert hat, ist meine innere Haltung:

Als Mutter bin ich da, um die Kinder zu begleiten. Um einfach für sie da zu sein. Um einen Raum zu schaffen, in dem sie sich unbehelligt und frei entwickeln können. Manchmal ist es nötig, sie zu beschützen. NIE jedoch geht es darum, sie zu steuern, zu bevormunden oder mich über sie zu stellen. Und nie geht es darum, meine Anliegen mit Gewalt durchzusetzen.

Wenn ich die Wut in mir hochsteigen spüre, dann weiss ich mittlerweile eins: Hier zeigt sich etwas in mir, das ich noch auflösen darf. Etwas, das bei mir noch nicht aufgeräumt und in Ordnung ist. Die Kinder zeigen mir mit ihrem Verhalten lediglich auf, wo ich hinschauen darf.

In meinem Fall waren das alte – mir nicht mehr dienliche – Schutzmechanismen der Kontrolle, der Sicherheit, der Angst.

Gleichwertig statt «ich-oben-du-unten»

Seitdem wir diese Themen erkannt und bearbeitet haben, hat sich das Klima in unserer Familie verändert. Es ist leicht und fliessend geworden. Die stetigen Konflikte sind einem Gefühl der Gleichwertigkeit und des Vertrauens gewichen. Als Eltern sind wir uns mittlerweile bewusst, dass wir von unseren Kindern mindestens ebenso viel lernen können wie sie von uns.

Das heisst auch: Wir nehmen sie und ihren Willen ernst, statt auf blindem Gehorsam zu bestehen.

Und so halten wir gemeinsam den Raum, in dem jedes Familienmitglied sein darf, wie es ist. In dem Entwicklung möglich ist. Diese Entwicklung wird oft noch durch Konflikte angestossen – doch wir reagieren darauf, indem wir uns selbst hinterfragen. Indem wir dem anderen mit Achtung und Liebe begegnen, egal, wie sehr er oder sie uns triggert.  

In diesem Raum braucht es keine Betonblöcke.

Das Dunkle führt ins Licht

Doch es braucht die Betonblöcke, damit wir auch als Kollektiv erkennen dürfen, was hier falsch läuft. Damit wir als Gesellschaft den gleichen Weg gehen, den ich und so viele andere Mütter und Väter bereits gemacht haben: Von der Obrigkeit zur Gleichwertigkeit. Von einseitigen Durchsagen zur Lösungsfindung. Vom Gegeneinander zum Miteinander. Vom Konflikt zur Liebe.

Ich spüre genau, dass wir uns jetzt in den Geburtswehen zu einer Welt befinden, in der alte, uns nicht mehr dienliche Systeme und Mechanismen ebenfalls von uns abfallen dürfen. In der sie sich wandeln dürfen. Dafür ist es nötig, dass sie sich nochmals in ihrer ganzen Hilflosigkeit zeigen.

In der gleichen Hilflosigkeit, die vor ein paar Jahren zu meiner Metamorphose als Mutter geführt hat.  

Auch wenn es gerade anders erscheint: Alles ist gut!

 

1 Noch während ich diesen Blog schrieb, ist genau das eingetreten: Die Polizei ist nochmals beim Restaurant erschienen und hat die ganze Familie des Wirten – einschliesslich seiner Mutter – unter Anwendung von roher Gewalt festgenommen. Die Folge ist eine ungeahnte Solidaritätswelle, die sich auch von der herablassenden Berichterstattung seitens der Mainstream-Medien nicht stoppen lässt.
2 Bildnachweis: 20min.ch (sofern das Bild aus einer anderen Quelle stammt: Gerne erwähne ich an dieser Stelle die/den tatsächliche/n Fotograf/in)