Kürzlich kam mein Blut in Wallung. Im Facebook-Post eines geschätzten Kommunikationskollegen las ich den Begriff «Covid-19-Lügner». Er bezeichnete damit Menschen, die unlängst an einer Demonstration auf dem Bundesplatz in Bern im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie teilgenommen haben.

Gräben quer durch Freundschaften und Familien

Das Corona-Virus hat vieles zum Stillstand– und gleichzeitig alles in Bewegung gebracht. Es hat Menschen näher zusammen rücken lassen – und gleichzeitig voneinander getrennt. Diese Trennung offenbart sich etwa in den verordneten Abstandsregeln.

Am deutlichsten jedoch kommt sie in den tiefen Meinungsgräben zum Ausdruck, die innert Wochen zwischen Menschen entstanden sind, die sich zuvor noch in allem einig waren. Jetzt teilen diese Gräben Angehörige gleicher politischer Gesinnung und ziehen sich quer durch Freundschaften und Familien.

Auf der einen Seite des Grabens stehen jene, die die staatlich verordneten Massnahmen in Folge der Verbreitung des Corona-Virus’ unterstützen. Auf der anderen jene, die diese hinterfragen.

Letztere haben Etiketten erhalten: Man nennt sie Verschwörungstheoretiker, Personen mit esoterischem Hintergrund – oder eben «Covid-19-Lügner». Dies, obwohl die wenigsten der so Bezeichneten wohl die Existenz des Corona-Virus leugnen. Weshalb also dieser Begriff?

Etikettierung heisst: Mach aus vielen verschiedenen Menschen eine Gruppe

«Covid-19-Lügner» aktiviert ein starkes Denkmuster: Er lehnt sich an «Holocaust-Leugner» an und stellt bewusst einen Zusammenhang zwischen Rechtsextremen und jenen Menschen her, die die behördlichen Covid-19-Massnahmen anzweifeln, sich gegen die Überführung des Notrechts in Bundesrecht oder gegen einen Impfzwang aussprechen – objektiv gesehen durchaus relevante Gründe, um als Staatsbürgerin auf die Strasse zu gehen. Schliesslich betreffen sie unmittelbar unsere Rechte und unser Leben.

Die einzige Gemeinsamkeit der beiden Gruppen ist, dass sie auf die Strasse gehen, um sich für oder gegen etwas auszusprechen. Die politischen Motive hinter ihren Anliegen könnten in den meisten Fällen kaum weiter auseinander liegen.

Von Schlüsseln und Wirbelstürmen

Die Sprachwissenschaft nennt die bewusste sprachliche Schubladisierung auch «Framing»: Selbst feinste Nuancen wie etwa die Verwendung des männlichen Wortes «Flüchtling» steuert unser Empfinden auf subtile Art und Weise.

Studien haben gezeigt, dass deutsche Proband/innen einen Schlüssel («der Schlüssel») als hart, kantig oder eckig bezeichnen. Spanische Proband/innen hingegen beschreiben den gleichen Schlüssel («la llave») als klein, zierlich und niedlich. Den Ausschlag für die unterschiedliche Wahrnehmung gibt einzig das grammatikalische Geschlecht des Wortes.

Dieses Framing beeinflusst auch unsere Handlungen. Bei einem Wirbelsturm mit männlichem Namen werden nachweislich mehr Menschen gerettet als bei Wirbelstürmen mit weiblichem Namen: Da er als bedrohlicher wahrgenommen wird, werden früher Evakuierungen und Schutzmassnahmen angeordnet.

Sprache beeinflusst unser Denken und Handeln

Wie manipulativ sind da Begriffe wie «Flüchtlingswelle» (Überschwemmung, Gefahr, es braucht Dämme, wir müssen uns schützen) oder eben «Covid-19-Lügner»! Wer solche Begriffe braucht, benutzt Sprache – ob bewusst oder unbewusst –, um andere in eine bestimmte Richtung zu steuern.

Genau dies haben paradoxerweise auch die Nazis im dritten Reich getan. Deren wiederholte sprachliche Gleichsetzung von Juden mit Ungeziefer hat wesentlich dazu beigetragen, dass der Holocaust in dieser schrecklichen Art und Weise überhaupt entstehen konnte. Sie haben Juden damit gezielt entmenschlicht und ihre Vernichtung moralisch legitimiert.

Urteile und Schubladisierung stehen am Anfang jeder Diskriminierung

Es gilt also, den Anfängen zu wehren – und mögen sie noch so harmlos erscheinen. Überall dort, wo wir urteilen, beginnt Trennung. Überall dort, wo wir Menschen in eine Schublade stecken, beginnt Diskriminierung. Überall dort, wo wir sprachliche Etiketts verhängen, verunglimpfen wir.  

Lasst uns auf unsere Urteile und sprachlichen Äusserungen achten! Denn überall dort, wo wir uns der Wirkung unserer Worte bewusst werden und sie wertschätzend und achtsam benutzen, schütten wir den vermeintlichen Graben wieder zu. Oder lassen ihn gar nicht erst entstehen.

 

Et qu’on nous épargne à toi et moi si possible très longtemps d’avoir à choisir un camp.»

Jean-Jacques Goldman, «Né en 17 à Leidenstadt»