«Süchtig kann nur sein, wer seine Suche noch nicht beendet hat.»

Christa Jasinski

 

Ausgehend vom Wort Sehnsucht habe ich mir heute Morgen Gedanken zum Wort «Sucht» gemacht. Es hat für mich eine tiefe Bedeutung, dass «Sucht» und «Suche» den gleichen Wortstamm haben und sich nur durch einen Buchstaben voneinander unterscheiden.

Im Zuge meiner persönlichen Entwicklung ist mir bewusst geworden, dass mein Leben mehrheitlich vom Gefühl des «noch etwas Wollens» geprägt war – und manchmal immer noch ist. «Das ist ein gesundes Streben nach dem nächsten Schritt, dein Antrieb», mögen einige nun sagen. Doch ich habe erkannt, dass dieser Antrieb dazu führt, dass ich mich unbewusst ständig getrieben fühle. Dass es dann nie gut genug sein kann, wie es ist. Dass ICH mich dann nie gut genug fühle. Dass ich mich dann ständig auf der Suche befinde, ohne je anzukommen.

Diese stetige Suche ist wie eine Sucht. Sie kann auch zu einer Sucht nach Mitteln führen, die uns diese ständige Suche vergessen lassen.

Sucht als altes Wort für Krankheit

Die meisten Lexika und Webseiten zur Wortherkunft lassen den Zusammenhang zwischen Sucht und Suche ausser Acht. Sie verweisen darauf, dass Sucht das alte – und allen germanischen Sprachen gemeinsame – Wort für Krankheit ist.

Während es früher alle Arten von Sucht gab – von der bösen, heissen, kalten, gelben, roten, ungarischen, englischen bis zur geilen oder natürlichen Sucht –, zeugt heute nur mehr die Gelbsucht von dieser ursprünglichen Bedeutung. Das «Siechenhaus» als Wort für Krankenhaus ist aus der deutschen Sprache verschwunden. In den nordischen Sprachen findet es sich noch: als sygehus (dänisch), sykehus (norwegisch) oder sjukhus (schwedisch).

Auch das in Berndeutsch – meinem Schweizer Dialekt – gebräuchliche Schimpfwort «Siech» stammt von krank ab («Du Kranker!»). Interessanterweise hat die erweiterte Form «Sibesiech» (Siebensiech) eine positive Bedeutung und bezeichnet einen vielseitig begabten Menschen, einen Tausendsassa oder – auch schön – einen «Hans Dampf in allen Gassen».

Sucht saugt die Lebenskraft aus

In seinem aufschlussreichen Artikel «Ist Sucht eine Erfindung der Moderne?» legt Michael Masters dar, wie sich das Wort «Sucht» im Lauf der Zeit gewandelt hat:

Es gilt als sicher, dass Sucht vom indogermanischen Wort für «saugen» abstammt. Dieses lautete etwa suk, sug, seuk (Seuche!) oder seug. Sucht – oder eben Krankheit – bedeutete, dass ein Dämon kranken Menschen die Lebenskraft aussaugt.

Das bringt die damalige magisch-ganzheitliche Weltansicht zum Ausdruck. In dieser gab es Elben und Dämonen, denen man durchaus auch gute Taten nachsagte. Der Mensch war nicht auf sich allein gestellt: Er war eingebunden in die geistige Welt, die selbstverständlich mit und um ihn existierte.

Wandel in der Neuzeit: Der nutzlose Kranke

Ab dem 14. Jahrhundert wandelte sich die Sucht zur Krankheit. «Kranc» bedeutete ursprünglich schwach, kraftlos, klein, schmal, gering, schlecht.

Masters schreibt dazu: «Der Kranke spiegelte nicht mehr die Macht eines dämonischen Elbs, sondern wurde nun für schwach, gering und schlecht, für wertlos erklärt. Er wurde in der Tat im zunehmenden Prozess der Auflösung der alten Feudal- und Hausgemeinschaft, der neuen Bedeutung von Handel, Manufakturen, gestiegener Entfremdung und Geldakkumulation, zunehmend wertlos, im ökonomischen Sinne nutzlos.»

So spiegelt das Wort «krank», wie wir in der Neuzeit auch als Gesellschaft erkrankten: Der Mensch wurde zur Ware herstellenden Ware. Er wurde darauf getrimmt, seiner Arbeit im System nachzukommen. Dieser Arbeit darf er bezeichnenderweise erst dann fernbleiben, wenn er körperlich oder geistig krank geworden ist.

«Ich bin vollkommen» beendet Sucht und Suche

Welche Schlussfolgerungen können wir nun daraus ziehen?

Für mich bedeutet dies, dass unsere Krankheiten und Süchte dann enden, wenn wir unsere Suche – nach Materiellem, nach mehr Sicherheit, nach weiterer Entfaltung, nach einem anderen Körper usw. – beenden. Wenn wir erkennen, dass wir schon jetzt vollkommen – und auch vollkommen sicher – sind.

So gesehen ist Krankheit die Sprache meiner Seele, die mich einlädt, mich selbst zu finden. Und mich endlich gut genug sein zu lassen.

 

PS: Mit obigen Überlegungen verwandt ist der Gedanke, dass du „reich bist, wenn es reicht“. Siehe dazu auch meinen Kurzbeitrag auf QS24: https://youtu.be/e-gzr_nh6QY