Bei kaum einem Thema erlebe ich solch grossen Widerstand wie bei der “Schuld”. Die Aussage, dass es so etwas wie Schuld nicht gibt, löst heftige Reaktionen aus. Insbesondere wehren sich viele Menschen dagegen, ihre eigene Schuld loszulassen.

Das erste Mal erlebte ich eine solch abwehrende Reaktion vor etwa sieben Jahren bei einem Aufräumcoaching mit einer Kundin im Seeland. Sie sprach während der gemeinsamen Arbeit oft von einer Schuld ihren Kindern gegenüber. Sie litt sichtlich unter diesem Zustand. Als ich einmal einfliessen liess, dass es Schuld für mich nicht gibt, lehnte sie diesen Gedanken kategorisch ab.

Damals war ich noch irritiert: Es schien, als wolle sie um jeden Preis an “ihrer” Schuld festhalten. Was bewegte sie dazu?


Wir haben einen Seelenplan

Ich erkannte, dass sie für eine Erläuterung meiner Aussage nicht empfänglich war, daher unterliess ich jeden weiteren Kommentar. Gerne hätte ich ihr gesagt, dass es mir nicht darum ging, begangenes Unrecht zu leugnen oder so zu tun, als wäre nichts geschehen. Im Gegenteil!

Doch ich glaube auch, dass wir Menschen mit einem Seelenplan auf die Welt kommen: Wir haben exakt jene Eltern, begegnen jenen Menschen, erleben jene Situationen und begehen jene Taten, die uns die Erfahrungen machen lassen, die zu machen wir gewählt haben.

Und ja, das gilt auch für schlimme Erlebnisse, “böse” Begegnungen oder Taten, die von der Gesellschaft als verwerflich verurteilt werden: Sie alle bergen die Chance in sich, uns kraftvoller zu uns selbst zu führen, als wenn unser Leben ausschliesslich in rosaroten Bahnen verlaufen würde.

Diese Weltanschauung geht davon aus, dass ALLES der gleichen Quelle entstammt. Die Quelle ermöglicht es uns, alle Seiten der Medaille kennenzulernen, um schliesslich unsere goldene Mitte zu finden und zu wählen, wie und wer wir sein wollen.

Auch diese meine Sicht trifft im Aussen oft auf Widerspruch – vor allem von Menschen, die sehr Schlimmes erlebt haben. Ich kann dies gut verstehen. Und doch:


Es kann nicht anders sein, als es ist

“Wer uns auch immer begegnet, was wir auch immer erleben: Es kann nur so sein, wie es ist.” Ich habe dies für mich als Wahrheit erkannt.

Wohl auch deshalb klingen die vier indischen spirituellen Gesetze, die vor Jahren zu mir gekommen sind, so bei mir an. Die ersten zwei lauten wie folgt:

 

  • Das 1. Gesetz sagt: “Der Mensch, der dir begegnet, ist der richtige.” Das heisst: Niemand tritt zufällig in unser Leben. Alle Menschen, die uns umgeben und die sich mit uns austauschen, haben eine Bedeutung für uns. Sie sind entweder da, um uns zu lehren, oder um uns in unserer Situation voranzubringen.
  • Das 2. Gesetz sagt: “Das, was passiert, ist das Einzige, was passieren konnte.” Nichts von dem, was (uns) geschieht, hätte anders sein können. Nicht einmal das unbedeutendste Detail. Es gibt kein “Wenn ich / er / sie das anders gemacht hätte, dann wäre es anders gekommen”. Nein: Das, was passiert, ist das Einzige, was passieren konnte und musste, damit wir die Erfahrungen machen, die uns vorwärts bringen. Alle Situationen, die uns im Leben widerfahren, sind absolut perfekt – auch wenn unser Verstand und unser Ego sich dem widersetzen.

Bei mir bewirken diese Gesetze, dass Druck von mir abfällt. Sie nehmen auch jegliche Luft aus dem Versuch, mich gegen eine geschehene Ungerechtigkeit aufzulehnen – und an diesem unmöglichen Unterfangen zugrunde zu gehen.

Gleichzeitig machen die Gesetze deutlich, dass ich mich der göttlichen Führung hingeben darf. Alles hat seinen Sinn.


Die “schlechte” Mutter ist die richtige Mutter

Gleiches drückt Gott in Neale Donald Walschs wundervollem Kinderbuch “Ich bin das Licht” (1) in anderen Worten aus, wenn er sagt: “Ich habe dir immer nur Engel gesendet!”

So beschert etwa jene Mutter, die nicht in der Lage ist, ihrem Kind Liebe zu schenken, diesem irdisch betrachtet einen besonders schwierigen Start ins Leben. Vielleicht wird sie dafür geächtet, und wahrscheinlich empfindet sie selbst eine grosse Schuld angesichts ihres Unvermögens.
Betrachte ich die Situation jedoch auf der Seelenebene, so hat gerade dieses Kind mehr als andere die Chance, sich die fehlende Liebe selbst zu schenken und dadurch zu erfahren, was Selbstliebe wahrhaft ist!

Das ist mit dem Wort “Herausforderung” gemeint: Sie fordert mich heraus, mich über das “Normale” zu erheben und über mich und meine Begrenzungen hinauszuwachsen!

Ein Kapitel in Eva Maria Zurhorsts Buch “Liebe dich selbst, und es ist egal, wen du heiratest” (2) heisst sinngemäss “Unsere Eltern sind wie Hanteln”: Je schwerer das Gewicht ist, das sie uns aufbürden, desto stärker können wir werden.

Und so ist die “schlechte” Mutter genau die richtige. Sie erweist ihrem Kind einen Liebesdienst, indem sie ihm die Steine in den Weg legt, aus denen es eine stabile Treppe nach oben bauen kann.

“Ich habe dir immer nur Engel gesendet…”.

 

Überwindest du die Schuld, öffnest du die Schleusen für die Liebe

Doch auch für diese beispielhafte “schlechte” Mutter hält die Situation gleich mehrere grosse Schätze bereit:

Wenn sie den Mut aufbringt, die Schattenthemen in ihrer “Schuld” anzuschauen und auszuleuchten (ausgehend von der Frage ”Was hat dazu geführt, dass …?”), dann beginnt sie innerlich zu wachsen. Statt in ihrer Schuld zu verharren, wächst ihr Bewusstsein, das unter anderem aus der Gewissheit besteht, den Fehler nicht noch einmal zu machen.

In diesem Prozess ist es notwendig, dass sie sich erlaubt zu trauern. Denn sie wird vieles hinter sich lassen – unter anderem die Vorstellung, wie es sein “müsste” oder hätte sein “sollen” (3). Dabei wird sie mit grosser Wahrscheinlichkeit ihre eigene Kindheit ausleuchten und ihren eigenen Eltern vergeben. Denn: “Vergebung heisst, die Hoffnung auf eine bessere Vergangenheit aufzugeben.”

Dieser Prozess bringt sie auch von den Emotionen ins Gefühl, von der Opferhaltung in die Liebe. Dann endlich ist sie bereit, die bis dahin geschlossenen Schleusen zu öffnen: Für jene, die ihr die Liebe schenken wollen, die sie bislang ablehnte (”Ich bin es nicht wert”). Und für jene, denen sie nun endlich das Geschenk ihrer eigenen Liebe machen kann.

Die Frage ist: Wie viel dieser “schlechten” Mutter steckt auch in dir? Wo glaubst du, eine Schuld zu haben, die du bislang nicht loslassen wolltest?

 

Das Zeugnis Jakobus’ des Jüngeren

Meine Gewissheit, dass es so etwas wie Schuld nicht gibt, ist seit der Lektüre eines weiteren Buches noch tiefer geworden. Das Buch ist erst vor kurzem in mein Leben gekommen und hat mich stark berührt. Es trägt den Titel “Die Geschichte Jakobus’ des Jüngeren” (4).

Ingrid Lipowsky bekam den Inhalt in wochenlangen Meditationen vom Engel “Yasper” diktiert, der als Schustergeselle “Jakobus der Jüngere” zu Jesu Zeiten auf der Erde inkarniert war. Als solcher begleitete er Jesus ein Stück auf dessen Weg. In diesem bewegenden Dokument berichtet Jakobus vom Wirken, der Weisheit und der Liebe des Gottessohnes. Mein Gefühl sagt mir: Ja, so wird es gewesen sein.

Jakobus erzählt auch davon, wie Jesus Menschen geheilt hat. Jesus sagt im Buch: “Die Krankheiten entstehen meistens, weil sich diese armen Menschen mit einer Schuld beladen, die der Vater in ihnen nicht sieht. Dadurch, dass sie die Sicht des Vaters, Seine liebende, verstehende und verzeihende Sicht annehmen, werden sie von ihrer Krankheit befreit, denn ihre Seele ist frei.” 

Heilung gelingt nur, wenn du den Glauben an deine Schuld loslässt

Jesus’ Heilungen begannen mit der Frage “Was fehlt dir?”. Wenn er die Krankheit in einer Schuld begründet sah, für die der Kranke unbewusst sühnen wollte, sagte Jesus: “Ich sehe keine Schuld in dir.”

Zögerten die Heilsuchenden, dies zu glauben, fragte er nach: “Würdest du dieselbe Tat heute noch einmal begehen?” Wenn sie dies verneinten, fuhr er fort: “Ich sehe in dir keine Schuld. Das, was du damals getan hast, hast du als der getan, der du damals warst.”

Doch auch dann waren die Menschen manchmal nicht bereit, ihre Schuld loszulassen. Wie der blinde Jeremiah, der Jesus antwortet:

“’HERR, meine Schuld vor GOTT ist zu gross. Ich kann mich nicht lieben. Ich muss Busse tun. (…) Vielleicht kann GOTT mir dann verzeihen und meine Schuld von mir nehmen.’

Jesus’ Blick wurde traurig, er liess seine Hände kraftlos sinken und schien in sich zusammenzufallen. Resignation lag in seinem Blick, als er sich uns zuwandte und sprach: ‘Warum nur, warum nur können die Menschen die Liebe des himmlischen Vaters nicht annehmen? Warum nur gehen sie immer wieder den schweren und schmerzvollen Weg der Schuld?’

Noch einmal wandte er sich dem Blinden zu: ‘Geh deinen Weg, aber vergiss meine Worte nicht. Es ist die einzige Möglichkeit, heil und gesund – und sehend zu werden.’”

Wem es also gelang, den Glauben an seine Schuld loszulassen, erfuhr Heilung. Wem es nicht gelang, litt – zu Jesus’ grosser Betrübnis – weiter.

Und genau so ist es heute noch.

 

Gott richtet nicht über Gut und Böse

Das bringt uns zurück zur Frage: Was macht es uns zuweilen so schwer, die eigene Schuld loszulassen?

Ich kann den Grund nur erahnen: Ich orte ihn in einer Jahrtausende alten Prägung, die uns (unbewusst) glauben lässt, es mit einem zürnenden Gott zu tun zu haben. Haben nicht auch unsere Eltern gezürnt, wenn wir etwas “Unrechtes” taten? Werden wir vom Staat nicht bestraft, wenn wir uns nicht an die Gesetze halten? Hat uns nicht die Kirche eingebläut, dass wir schon als Sünder auf die Welt gekommen sind? 

Also sträuben sich unsere Zellen gegen das Bild eines bedingungslos liebenden GOTTES, der für keine Schuld eine Sühne fordert, der nicht über Gut und Böse richtet (Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte„, Mat. 5,45).

Doch wir, wir richten über Gut und Böse von Kindesbeinen an! Lob und Tadel unserer Eltern haben uns früh gelehrt, was “gutes” und was “schlechtes” Verhalten ist. Seither ist das schlechte Gewissen unser stetiger Begleiter – egal, ob wir uns eines Vergehens schuldig fühlen, Erwartungen anderer nicht erfüllen mögen oder einfach auf unsere eigenen Bedürfnisse achten.

 

Zeit, die Geschenke zu bereiten und zu empfangen

Hinter dieser Prägung können wir uns auch verstecken! Es braucht wohl Mut, um bewusst daraus auszutreten. Doch erst dann, wenn wir uns trauen, die Schuld hinter uns zu lassen, bereiten wir uns, unseren Nächsten – und GOTT! – das von Anfang an beabsichtigte Geschenk.

Ich glaube, dass es an der Zeit ist, dass wir diese Prägung ein für allemal ausbügeln und aus unserem Leben streichen; dass wir unser Herz wieder öffnen und uns selbst in Liebe annehmen. Wir haben lange genug gelitten und uns selbst vorgegaukelt, wir wären nicht gut so, wir wir sind und wie wir handelten.

In dem Moment, in dem wir die Schuld loslassen, werden unsere Hände frei für die Geschenke Gottes. Das grösste davon ist seine bedingungslose Liebe. Sie ist immer da. Es liegt einzig an uns, ob wir sie annehmen wollen oder nicht. 

 

PS: Im gleichen Masse, in dem Schuld für mich eine Illusion ist, glaube ich daran, dass jeder Mensch ein Recht auf seinen Weg und seine eigene Auffassung hat. In diesem Sinne erwarte ich keinerlei Zustimmung zu obigen Gedanken. Ich freue mich jedoch, wenn sie zum Anlass genommen werden, bestehende Gefühle der Schuld zu hinterfragen – und sie möglicherweise leichter loszulassen.

 

(1) Neale D. Walsch (1999): Ich bin das Licht! Die kleine Seele spricht mit Gott. Freiburg: Hans-Nietsch-Verlag (Edition Sternenprinz)

(2) Eva-Maria Zurhorst (2009): Liebe dich selbst, und es ist egal, wen du heiratest. München: Arkana

(3) Das Verb SOLLEN stammt vom althochdeutschen Wort SCULAN ab, das schuldig sein bedeutet. Wir erleichtern uns, indem wir dieses Wort ersatzlos aus unserem Wortschatz streichen.

(4) Ingrid Lipowsky (2021): Die Geschichte Jakobus’ des Jüngeren. Saarbrücken: Ryvellus (Neue Erde) – Informationen und Bestellung