Wenn ich in Bern meine Mutter besuche, führt mich mein Weg immer auch in den nahegelegenen Wald. Ich kenne den “Chünizer”, wie er hier genannt wird, von Kindesbeinen an: Zu Schulzeiten radelten wir mit dem Fahrrad seinem Rand entlang, suchten Geheimverstecke hinter Baumstrünken oder “strielten” (1) einfach so durchs Geäst.

Der Mischwald mit einer Fläche von fast zweieinhalb Quadratkilometern liegt mitten im Stadtgebiet. Er grenzt an Strassen, Tram- und Zuglinien an. Die nahe Autobahn ist zu weiten Teilen hörbar. Ihr Lärm mischt sich unter das Vogelgezwitscher und lässt nie totale Stille aufkommen – zumindest in dem Gebiet, das meinem Elternhaus am nächsten liegt.

Und doch: Es ist ein echter Wald. Neben den breiten Gehwegen und schmalen Trampelpfaden gibt es jene idyllische Stellen, an denen ich regelmässig in die Natur eintauchte und einmal sogar ein Reh erblickte.

Manch ein Video von mir ist dort entstanden, etwa dieses hier:

 
Zone der Zerstörung anstelle des Märchenwaldes

Seit einiger Zeit jedoch hatte ich auf Spaziergängen in diesem Wald ein mulmiges Gefühl: Es gibt Bereiche, die früher dicht bewaldet waren und auf denen jetzt nur noch einzelne Bäume stehen.

Das mulmige Gefühl wandelte sich vor Wochen in eine besorgniserregende Vorahnung beim Anblick zahlreicher mit Farbe markierter Bäume und bereits auf dem Boden liegender, abgeholzter Baumstämme.

Doch all das bereitete mich nicht auf den Schock bei meinem letzten Besuch vor: In meinem Lieblingswaldstück lagen gefühlt mehr Bäume abgesägt auf dem Boden, als stehen geblieben waren. Wo vorher erdige Pfade durch wunderschöne Moosflächen führten, hatten nun grosse Raupenfahrzeuge eine Schneise gezogen und die ganze Erde aufgewühlt.

Aus dem mystisch-idyllischen Märchenwald war eine Zone der Zerstörung geworden. Meinen Lieblingsplatz fand ich kaum wieder. Nur ein Baum mit der Nummer 23, den ich erkannte und der an dieser Stelle noch stand, gab mir einen Hinweis darauf, wo ich mich vorher jeweils zum stillen Rückzug und zum Auftanken hin begeben hatte.

 

Zukunfts- und Konkurrenzbäume

Am Rand dieses Desasters stand neu eine Informationstafel. Dem Titel entnahm ich das Ziel dieser Aktion: “Für einen klimafitten Wald”, las ich da.

Darunter stand, dass vitale Zukunftsbäume in regelmässigen Abständen gefördert und weniger zukunftsfähige Konkurrenzbäume entfernt würden. Ausserdem werde das Holz als erneuerbarer Baustoff gewonnen und diene als Ersatz für fossile Energieträger.

“Klimafit”? In meinen Augen dient der so genannte „Klimaschutz“ in den meisten Fällen als Argument für die Einführung von Massnahmen, die dem Menschen (als Teil der Natur) mehr schaden als nutzen. Und die erneuerbaren Energieträger haben für mich in mancher Hinsicht – auch der ökologischen – ihren Glanz verloren. Auch hier geht es nur ums grosse Geschäft.

“Zukunftsbäume”? “Konkurrenzbäume”? Wer darf denn entscheiden, was ein Zukunfts- und was ein Konkurrenzbaum ist? Was soll dieses sprachliche Framing in Zusammenhang mit einem lebendigen Organismus wie einem Baum? (Andererseits geschieht Framing und Schubladisierung mit uns Menschen laufend, und wir leben schliesslich auch…)

Überhaupt: Ist es nicht geradezu grotesk, aus Gründen des Klimaschutzes den halben Wald abzuholzen?

 

Schindluderei oder echte Waldschutzmassnahmen?

Emotional aufgebracht in einer Mischung aus Entsetzen, Wut und Trauer folgte ich dem Lärm einer Fräse und erblickte schliesslich ein grosses Raupenfahrzeug, das gerade die Äste von einem gefällten Baum absägte. Ich sah mich darauf zulaufen und davor stehenbleiben. Diesmal würde ich nicht einfach schweigend alles hinnehmen.

Der Mann im Fahrzeug unterbrach seine Arbeit, öffnete die Tür und fragte, ob etwas sei.

Ja, sagte ich dem sympathisch wirkenden Mann mittleren Alters: Ich sei gerade sehr traurig und geschockt vom Bild, das sich mir im Wald böte. Warum, fragte er. Also erzählte ich ihm von meinem Gefühl, dass das, was hier passierte, falsch sei. Ich brachte meine Zweifel an den Aussagen auf der Tafel an. Ich teilte ihm meine Auffassung mit, wieviel Schindluderei (2) im Namen des Klimaschutzes betrieben werde. Und dass ich es nicht für richtig hielte, dass Menschen über die Lebensfähigkeit von Bäumen entscheiden und sie dann einfach abholzen dürfen.

Er hörte mir zu und begann dann, seine Sicht der Dinge zu erläutern. Dass das grösste Problem für den Wald zurzeit nicht der Borkenkäfer sei, sondern der anhaltend trockene Boden. Dass die Bäume dadurch nicht mehr genügend Wasser aus dem Boden ziehen könnten und es also sinnvoll sei, den Baumbestand auszudünnen. Oder dass die neuen Schneisen durch den Wald sorgfältig ausgewählt werden und nach einem Sturm dafür sorgten, dass die Maschinen das Fallholz auf klar definierten Wegen entfernen könnten. Dadurch würden die Pilznetzwerke im restlichen Waldboden geschont.

 

Austausch auf Augenhöhe

Einig waren wir uns interessanterweise von Anfang an in einer Sache: Dass der Wald den Menschen nicht braucht, und dass es ihm ohne Eingriffe desselben am besten geht. Der “Chünizer” jedoch steht nicht unter Naturschutz und erfüllt mehrere Zwecke. Unter anderem ist er Naherholungsgebiet und Nutzwald. Und als solcher wird er bewirtschaftet.

Es entwickelte sich ein langes Gespräch, in dem beide dem anderen aufrichtig zuhörten. Wir nahmen die Argumente des anderen an und brachten auf ruhige Weise dort Einwände vor, wo uns diese fraglich erschienen.

Er sagte mir, dass viele Menschen bei seiner Arbeit angriffig auf ihn zukämen – die wenigsten jedoch ein Gespräch suchten wie ich gerade. Er erzählte mir auch, dass er den Wald mit seiner Familie auch in seiner Freizeit nutze und er niemals etwas tun würde, was diesem Lebens- und Arbeitsraum von ihm schaden würde.

Nach fast einer Stunde gab ich dem Forstmitarbeiter die Hand und trat den Rückweg an, mitten durch die am Boden liegenden gefällten Bäume. Viele Dinge, die er mir gesagt hatte, waren neu für mich – und faktisch absolut nachvollziehbar. Und doch liefen mir erneut die Tränen herunter. Auch wenn ich nun mehr wusste: Es fühlte sich immer noch falsch an.

Leichter machte mir das Leben in diesem Moment einzig, dass der Forstarbeiter in guter Absicht handelte. Er will nicht zerstören, er will erhalten. Ob ihm dies gelingt, hängt wohl von der Betrachtungsweise ab.


Materialismus = Zerstörung, Einbezug des Feinstofflichen = Leben

Heute, drei Tage nach dieser Erfahrung, habe ich die Geschehnisse reflektiert. Ich bin zum Schluss gekommen, dass die Problematik unter anderem darin liegt, dass wir noch in einer Welt leben, in der die Dinge ausschliesslich auf der feststofflichen Ebene betrachtet werden. Der Baum wird einzig als Objekt betrachtet. Würden wir die feinstoffliche, energetische Ebene ebenso wahrnehmen wie die materielle, würden wir Bäume anders betrachten und anders behandeln. Sie wären uns heilig. Jeder einzelne von ihnen. Es gäbe keine “Konkurrenzbäume”, die gefällt werden dürfen.

Froh und auch ein bisschen stolz macht mich, dass es mir gelungen ist, ohne Wertung auf den Mann zuzugehen und trotz meiner vorgefassten Meinung auf innerer Augenhöhe mit ihm zu sprechen. Ich danke es ihm sehr, dass er sich seinerseits so offen auf das Gespräch eingelassen hat.

Es ist also möglich, auch in aufgebrachter Stimmung und mit vermeintlich “feindlich” agierenden Menschen den gemeinsamen Nenner zu finden und friedlich zu bleiben. Das lässt uns erkennen, dass wir ebenbürtige Mitglieder der gleichen Menschheitsfamilie sind. In einem solchen Moment geschieht Heilung.

Die gleiche Heilung wünsche ich nun “meinem” Wald. Ich solle im Mai nochmals kommen, meinte der Mann. Das werde ich tun. Erst im Mai. Vorher schmerzt es noch zu sehr.

 

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(1) Das Verb “strielen” existiert im Hochdeutschen nicht. Ich habe es kurzerhand aus dem berndeutschen ”striele” adaptiert, wo es ‘herumstreichen, herumschweifen’ bedeutet.

(2) “Schindluderei” ist eine Zusammensetzung aus “schinden” und “Luder”.

  • “schinden” passt in diesem Zusammenhang besonders gut, da das mittelhochdeutsche “schinden, schinten” dafür stand, einem Viehkadaver die Haut oder einem Baum die Rinde abzuziehen. Im Berndeutsch heisst “schinte” heute noch, Obst oder Gemüse zu schälen. “schinden, schinten” hatte im Mittelhochdeutschen auch die Bedeutung, jemanden zu berauben oder zu peinigen.
  • “Luder” bedeutet ‘Lockspeise, Köder, Aas’.

“Schindluderei betreiben” heisst im Kern also wörtlich, jemanden anzulocken oder zu ködern, um ihm dann die Haut abzuziehen.