Mit ihren dreiundsiebzig Jahren hat meine Mutter in ihrer Reihenfamilienhaussiedlung zum ersten Mal einen Konflikt mit einem benachbarten Paar.

Sie, die mit allen gut auskommt und besonderen Wert darauf legt, Rücksicht zu nehmen. Sie, die gutmütig und offenherzig mit allen kommuniziert und dabei gleichzeitig niemandem zu nahe treten will. Sie, die es allen recht machen will.

Auslöserin der herausfordernden Situation ist Yalla.

Yalla ist eine fünf Monate alte, lustige, wuschelige und verspielte Hündin. In den ohne Zaun aneinandergereihten Gärten schöpft sie ihre Freiheit voll aus: Mehrmals am Tag rennt sie los, wirft sich vor die Füsse meiner Mutter, saust in ihrem Garten herum und wartet – freudig mit dem Schwanz wedelnd – darauf, dass diese mit ihr spielt.

Vor lauter Freude spreizt sie auch mal die Beine und pieselt in den frisch gemähten Rasen.

 

Der Garten ist wichtiger als der Hund

Meine Mutter mag Yalla.

Doch noch mehr mag sie das ungestörte Sein in ihrem Garten, der im Sommer ihr zweites Wohnzimmer ist. Wichtiger ist ihr auch, dass die jungen Triebe an ihren Rosenstöcken unbeschadet bleiben. Und mehr als ein Spiel mit dem Hund schätzt sie den bislang hindernisfreien Gang durch ihr grünes Reich.

Also teilte sie der Nachbarin mit, es sei ihr lieber, dass der Hund nicht in ihren Garten komme: Zunächst durch die Blume, das zweite und dritte Mal klar und deutlich.

Damit stiess sie auf empörtes Unverständnis:

Die junge Yalla an eine lange Leine zu nehmen komme ebenso wenig in Frage wie das Aufstellen eines provisorischen Zauns am Rand des drei Parzellen weiter gelegenen Nachbargartens. Wenn die grenzmarkierenden Büschchen dort erst hoch genug gewachsen seien, würde Yalla dann schon drüben bleiben. Ausserdem übten sie täglich mit dem Hund, zu gehorchen.

Bislang ohne grossen Erfolg. Und so hat meine Mutter weiterhin fast täglich Besuch von Yalla, die lieber da bleiben will, als den wiederholten Rufen ihres Frauchens oder Herrchens Folge zu leisten.

 

Der Schlüssel liegt in der SELBSTverANTWORTung

Stefan Raab besang Ende der 90-er Jahre den «Maschendrahtzaun». Meine Mutter erlebt zurzeit hautnah, dass auch das Fehlen eines solchen zu Zwist unter Nachbarn führen kann.

Wie lässt sich diese belastende Situation nun lösen?

Die Versuchung ist im ersten Moment gross, im Aussen nach einer Massnahme zu suchen: Ein Anruf beim Hauseigentümerverband etwa kann Klarheit über die rechtliche Situation bringen.

Der wahre Schlüssel liegt jedoch nicht im Aussen, sondern in der Innenschau. Er beginnt mit Fragen wie:

Warum sieht sich meine Mutter mit dieser für sie unangenehmen Situation konfrontiert? Was hat diese für einen tieferen Sinn? Welchen Nutzen kann sie mit sich bringen?

Dann geht es darum, sämtliche daraus entstehenden Antworten auf sich SELBST zu beziehen.

Das ist es, was mit SELBSTverANTWORTung gemeint ist.

Die «Arschengel» sind unsere Helfer

Meine Mutter kann sich fragen:

  • Was hat die Situation mit mir zu tun?
  • Was will sie mir aufzeigen?
  • Welcher Spiegel wird mir vorgehalten?
  • Was kann ich aus dieser Situation lernen?

JEDE solche Situation bringt eine Lernerfahrung für alle Beteiligten mit sich. Sie geschieht niemals zufällig, und erst recht nicht, weil die Nachbarin einfach uneinsichtig oder unsympathisch wäre.

Nein, diese «Knöpfe-Drücker» nehmen eine wichtige Aufgabe für uns wahr, indem sie dankenswerterweise die Rolle des «Arschengels» übernehmen – ein Begriff, den Robert Betz geprägt hat.

 

«Grenzen setzen und einhalten» als Thema

Versuchte ich anstelle meiner Mutter, obige Fragen zu beantworten, dann käme mir als erstes das Wort «Grenzen setzen» in den Sinn.

Womöglich ist die lustige Yalla schwanzwedelnd in das Leben meiner Mutter gekommen, um sie dazu zu bringen, ihre inneren und äusseren Grenzen zu erkennen und deren Einhaltung klar einzufordern.

Möglicherweise geht es für sie darum zu lernen, diese Grenzen ungeachtet dessen zu setzen, was die Nachbarn von ihr denken – nicht nur die erwähnten, sondern auch alle anderen. (Ein Thema, das ihr besondere Mühe bereitet.)

Vielleicht war sie bislang zu sehr damit beschäftigt, es allen recht machen zu wollen und auf Kosten ihrer eigenen Grenzen Rücksicht auf alle anderen zu nehmen.

Unter Umständen ist sie aufgefordert, jetzt bedingungslos zu sich selbst und ihren Bedürfnissen zu stehen. Ganz egal, ob das jemand versteht oder nicht.

 

In den Spiegel schauen

So unangenehm solche Situationen sind, so sehr halten sie auch ein Geschenk für uns bereit:

Sobald wir den Mut aufbringen, in den Spiegel zu schauen, darf dieser wegfallen. Dann dürfen auch jene, die ihn uns vorgehalten haben, die Last ablegen und weiterziehen. Wenn wir unsere Aufgabe angenommen haben, haben die «Arschengel» ihre erfüllt.

 

Dann werden Yalla und ihr Frauchen mit grosser Wahrscheinlichkeit damit aufhören, die Grenzen meiner Mutter zu überschreiten – und dies idealerweise, bevor die Büsche hoch genug gewachsen sind.